FAMILIENSTELLEN ist in, so scheint‘s.
In mir löst das ambivalente Gefühle aus. Einerseits finde ich es wunderbar, dass dadurch diese Methode immer stärker ins öffentliche Bewusstsein vordringt. Gefühlt jede(r) zweite hat inzwischen schon mal irgendwie, irgendwo davon gehört. Lerne ich Menschen außerhalb des Kontextes meiner eigenen Heilarbeit kennen und erwähne, dass ich systemische Aufstellungen leite, so werden die Fragezeichen in den Gesichtern immer seltener.
Andererseits geht in meiner Wahrnehmung damit eine Simplifizierung und Reduktion auf eine für jeden Laien erlernbare und anwendbare Technik einher. Das ist nur ein Teil – wenngleich ein enorm wichtiger Teil! – dessen, was es braucht. Ich weiß nicht, wie viele komplett verschiedenartige Aufsteller/innen ich in ihrer Arbeit kennenlernte seit ich 2015 erstmals mit dem Familienstellen in Gruppe in Berührung kam. Mindestens 4 Hände voll, würde ich schätzen, über ganz Deutschland verteilt und aus jeder Altersgruppe. Präferenzen sind Geschmackssache, mag sein. Nur wenn man/ frau ein Gespür für Energiefluss hat, dann gibt es da große Unterschiede. Die Technik allein macht‘s nicht, da erfasste mich oft das Gefühl von etwas Statischen, Hölzernen, Veralteten. Und auch „intensiv“ muss nicht immer gleich wirksam bedeuten.
Bert Hellinger selbst nannte seine Herangehensweise am Ende ihrer Entwicklung ‚intuitiv‘ – vielleicht greift das am ehesten, was mich berührt und was für mich die Essenz dieser Arbeit ausmacht. Ist Intuition erlernbar? Gute Frage. Dies geht für mich einher mit der Idee, dass es erst soundsoviele Abschlüsse und hundert Jahre (Lebens- und Berufs-)Erfahrung braucht um therapeutisch oder heilerisch tätig zu sein. Entspricht alles NICHT meiner Erfahrung und Beobachtung als Klientin in unterschiedlichsten Formaten. Manche scheinen ‚es‘ einfach zu haben, “mitzubringen“, was andere nie erlernen werden – und was vielleicht auch gar nicht deren Aufgabe und wahren Begabung entspricht.
Doch nun zum Kern der Frage, die mir trotz aller ‚öffentlichen Aufklärung‘ in punkto Aufstellerei immer wieder einmal begegnet: welche Themen lassen sich denn eigentlich wirklich „gut“ aufstellen, und wieso sollen bestimmte Blockaden in meinem Leben mit meiner Herkunftsfamilie zu tun haben?
Gern lese ich die umfangreichen Aufzählungen dazu in Veranstaltungseinladungen, welche Fülle! Laaange Listen dessen, was man/ frau aufstellen lassen kann … von A wie Allergie bis Z wie Zweifel. Tatsächlich lässt sich aus meiner Sicht prinzipiell ALLES und jedes Anliegen aufstellen.
(Welche Frage für mich persönlich hingegen immer spannender wird, ist, für wen diese Art von Heilarbeit am effizientesten wirkt. Diesem Forschungsinteresse widme ich mich vor allem im Rahmen der astrologischen Beratungen. Ein anderes Mal mehr dazu …)
Dass wirklich JEDES erdenkliche Thema im Rahmen systemischer Betrachtungsweise aufstellbar ist, war für mich irgendwann ein echter Schock. Wie determiniert durch unsere Herkunftssysteme sind wir denn nur, verd… nochmal?!? Für Menschen (wie mich), denen persönliche (Gestaltungs-)Freiheit, eigener Wille und Entscheidungsgewalt unendlich viel bedeuten, ist das schon ein kleiner Realitätszusammenbruch. Schlimm genug, dass mir die Gesellschaft (zu) viele ausgesprochene und unausgesprochene Beschränkungen auferlegt, auch Konditionierungen genannt. Ich musste erfahren, dass es ungezählte subtile und weniger subtile Übernahmen aus den Familiensystemen mütterlicher- und väterlicherseits gibt. Mein Leben WIRD (oder wurde) zu einem Großteil gelebt durch im Hintergrund wirkende Kräfte und Verstrickungen, durch ungefühlte Emotionen meiner Ahnen, die in mir herumwaberten und die ich nicht meiner Erfahrungswelt zuordnen konnte, weil sie einst nicht in sog. Verantwortung genommen wurden von denen, zu denen sie gehörten. Schöne Illusion, von wegen „ich entscheide“. Alles mögliche entscheidet durch mich hindurch. Harte, schmerzhafte individuelle Wahrheiten sind das für viele Mutige, die sich dem stellen. Und für mich stellt dies das Wesen von BEWUSSTWERDUNG dar, von der heute allerortens gesprochen und – sorry – in der ‚Spiri-Szene‘ oft auch gefaselt wird. Bewusstwerdung gleich spirituelle Erleuchtung und so;-). Sollten wir nicht zunächst demütig ganz im Kleinen, bei uns selbst, im Individuellen beginnen ein bisschen Licht ins Dunkel des Unbewussten zu werfen?
Was oder wer oder wo in meinem Leben fühlt (es) sich unfrei an oder bedrückend oder schwächend? Familie, Job, Kinder, Partnerschaft, Freunde, eigener Körper, Emotionen, Gedankenwelt … Lebenssinn? Dort hinzuschauen ist oft eine kleine Heldentat fürs große Ganze.
Denn im Ideal geht es stets um Heilung fürs gesamte Familiensystem. Nicht in allen Aufstellungskontexten spürte ich diesen ursprünglichen Ansatz gelebt. Da saß plötzlich die ‚böse‘ Mutter auf der Anklagebank und Tochter oder Sohn durfte endlich alle lebenslang aufgestauten Vorwürfe über sie ergießen. Solche Szenen mitzuerleben schmerzte mich. Das bedeutet nicht, dass nicht ALLE Emotionen Raum haben dürfen, dass viele zurückgehaltene Sätze ausgesprochen werden sollen und müssen. Auch ein „ich hasse dich und ich wünschte du wärst tot“. Viele Menschen hörten mich schon über die transformative Kraft des gesprochenen Wortes reden. Nur zentral ist, die Geschichte eines JEDEN Beteiligten zu sehen, seine individuelle psychologische Realität, seine Einbettung in einen historischen und geistesgeschichtlichen Zusammenhang. Vor diesem Hintergrund entsteht echtes Verständnis und irgendwann auch, wie von allein, Vergebung – so meine Erfahrung.
Ein kleines konkretes Beispiel: eine der wichtigsten Erkenntnisse innerhalb meiner therapeutischen Ausbildungen war das Konzept und die Bedeutsamkeit der (emotionalen) Eigenverantwortung eines jeden Individuums. Das war die Erkenntnis, die ich am liebsten mit meinen eigenen Eltern geteilt hätte. Im Familienstellen spezifisch zusammengefasst im Satz: „Jeder trägt (nur!) sein eigenes Schicksal.“ Erst dann kommt jeder in seine eigene Kraft. Und wisst ihr, warum ich dies gern mit meinen alten Eltern (beide Kriegskinder, Jahrgang 1938) geteilt hätte? Weil ich sicher bin, dass ihnen dieses Konzept komplett unvertraut ist. Und vielleicht hätten sie es nicht einmal verstanden. Sie wuchsen auf mit und kennen einzig ein Hin- und Her- und Abschieben von eigener und Übernahme von fremder Verantwortung. Zuviel Fremdes, zu wenig Eigenes – weil da kein Platz mehr dafür war; das Fremde, oft sogar das Kollektive lastete zu unendlich schwer. Und daraus resultierend war auch kein reales Da-Sein für die eigenen Kinder möglich. Überhaupt keine Einzelfälle sind das, besonders in Deutschland und natürlich auch anderswo. Das meine ich mit Entwicklung des Bewusstseins, historischer Kontextualisierung etc.
Heute, hier und jetzt ist vieles möglich an Auf- und Erlösung all dieser ‚unsichtbaren‘, unbewussten Themen, so viel Hintergrundwissen und Methoden sind mit einem Male zugänglich. Menschen mit besonderen heilerischen Fähigkeiten, die sie oftmals nicht in diesem Leben erlernten, zeigen sich (werden daraufhin nicht verbrannt wie ehedem!), und ihre Mitmenschen sind aufgeschlossen und dankbar dafür, auch für Wege völlig abseits der herkömmlichen (Psycho-)Therapie, die ja selbst noch eine extrem junge Wissenschaft ist und in ständiger Veränderung begriffen. Die Zeit scheint im doppelten Wortsinn reif, so fühlt es sich für mich an.
In diesem Sinne ist irgendwie alles Familie und auch nichts NUR Familie, oder;-)?
Alles Liebe,
Julia
(Bild: „Vielleicht suchst du in den Zweigen, was sich in den Wurzeln verbirgt.“)